Rede zur Ausstellungseröffnung über Wilhelm Röpke

Rede zur Ausstellungseröffnung zum Leben und Werk Wilhelm Röpkes zu seinem 50. Todestag am 12.2.2016 in der Universitätsbibliothek Marburg

Der Volkswirt und Sozialphilosoph Wilhelm Röpke wurde am 10. Oktober 1899 im damals bäuerlichen Schwarmstedt bei Hannover geboren. Er starb am 12.2.1966 in Cologny-Genf in der Schweiz. In diesen Tagen liegt sein 50. Todestag. Vor allem mit seiner Trilogie “Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart” (1942), “Civitas Humana” (1944) und “Internationale Ordnung” (1945) beeinflusste er über mehrere Jahrzehnte die (inter)nationale wirtschafts- und gesellschaftspolitische Diskussion und insbesondere deutsche Nachkriegspolitiker nachhaltig, unter ihnen L. Erhard. Dieser kurze Beitrag soll insbesondere Röpke als homo politicus und die politisch- moralische Dimension seines Denkens behandeln.

Röpke gehört neben Eucken zu den interessantesten Vertretern des Ordoliberalismus und Wegbereitern der sozialen Marktwirtschaft. Sein christlich inspirierter Humanismus versuchte, Kulturkritik und ökonomischen Liberalismus zu verbinden. Die Fragen der ökonomischen Ordnung, die soziale und die moralisch-anthropologische Frage sowie die der politischen Machtverteilung wurden von ihm von Anfang an stets gemeinsam und ganzheitlich bedacht. Eine Reduzierung von Röpkes Denken auf einen Laissez-Faire Liberalismus, neben den später eine alterstypische, konservativ-reaktionäre Kulturkritik tritt, entstellt seine besondere Synthese.

Röpke studierte Staatswissenschaften, Jura und Volkswirtschaft in Göttingen, Tübingen und ab 1919 in Marburg, wo er sich nach der Promotion 1921 als Privatdozent der politischen Ökonomie mit “Die Konjunktur” (1922) habilitierte. Nachdem Röpke als Experte für Reparationsfragen im Auswärtigen Amt tätig war, wurde er 1924 als 24jähriger in Jena zum damals jüngsten deutschen Professor ernannt; die weiteren Stationen waren Graz und Marburg (1929-1933). Mit 31 Jahren gehörte er der Reichskommission zur Krisenbekämpfung an und schlug eine Kreditexpansion und staatliche Investitionen vor. 1932 unterstützte er den Aufruf der Marburger Hochschullehrer zur Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten. Am 16.4.1933 erklärt er als klares Zeichen dem Rektor der Marburger Universität seinen Rücktritt von allen Ämtern in der Universitätsverwaltung.

Als konsequenter Gegner des Nationalsozialismus gehörte er neben A. Rüstow zu den wenigen (genauer: insgesamt zwei) nichtjüdischen Emigranten aus politischer Überzeugung. Zunächst lehrten Röpke und Rüstow in Istanbul. 1937 erhielt Röpke eine Professur in Genf, wo er bis zu seinem Tod wirkte. Er war verheiratet mit Eva Röpke. Sie hatten drei Kinder.

Röpkes frühe Beiträge z.B. über “Geld und Außenhandel” (1925), “Die Theorie der Kapitalbildung” (1929) und “Finanzwissenschaft” (1929) decken fast alle damaligen wesentlichen ökonomischen Forschungsschwerpunkte ab. Seine Schriften waren stets bezogen auf drängende wirtschaftspolitische, universalhistorische, soziologische, demokratietheoretische und ethische Fragestellungen. Er beeindruckte durch eine prinzipiengeleitete Persönlichkeit und methodisch durch eine ökonomische Hermeneutik, d.h. die Fähigkeit, komplexe gesamtwirtschaftliche Konstellationen zu erfassen und durch zusammenfassende Begriffe zu kondensieren, die oft, wie etwa sein Begriff der “Initialzündung”, in das Vokabular der Zeitgenossen eingingen. Der wesentliche Impuls Röpkes, der sich in zusammen ungefähr 3000 Buch- und Artikelbeiträgen sowie Vorträgen ausdrückte, war die Suche nach einem dritten Weg neben den Alternativen eines freilaufenden Kapitalismus und den von ihm so bezeichneten totalitären Zentralverwaltungswirtschaften.

Bereits 1925 hatte Röpke in seinem Werk “Geld und Außenhandel” gegen die wie er es ausdrückte „Interessennationalökonomie“ und in Reaktion auf den wieder aufkommenden Protektionismus und die deutsche Hyperinflation ein theoretisch orientiertes Buch geschrieben, das grundlegende Aussagen auch der heutigen Geld- und Außenhandelstheorie enthielt. Röpke begründete hier seine Position für freien Warenverkehr und stabiles Geld, das ihm zeitlebens nur durch eine reine Goldumlaufwährung als internationales Währungssystem gesichert schien, bei der Papiergeld zumindest eine Deckungsquote und Umtauschmöglichkeit in Gold haben muss. Röpke war sich der Notwendigkeit von Abstraktion und Theorie bewusst, man müsse der diskursiv-rationalistischen Betrachtungsweise die Intuition an die Seite stellen, die den Nationalökonomen befähigt, sich in das „lebensvolle Getriebe der Millionen“ einzufühlen. Die Nationalökonomie sei oft mehr eine “Kunst” als eine “Wissenschaft”.

Fundamental für das Verständnis Röpkes ist seine Gegenwartsdiagnose einer säkularen, geistig-moralischen und politisch-sozialen Krise. Als negative Indikatoren gelten ihm u.a. die Überbevölkerung, Verstädterung, Landflucht, Bürokratien, Reklame, Naturferne und -raubbau, Schnelligkeitswahn und Lärm. Er kritisiert in der Gesellschaftskrisis vehement “jenen kolossalen und überschraubten Apparat der Massenversorgung …, die Orgie von Technik und Organisation, die Großindustrie, die aufs äußerste entwickelte Arbeitsteilung, die aufgeblähten Großstädte und Industriereviere, das Tempo und die Unstabilität des Wirtschaftslebens, die traditionslos-materialistisch-rationalistische Lebensführung … die Unterwerfung des ganzen Erdballs unter eine mechanistisch-positivistische Zivilisation” (1942, S. 28-29).

Seine universalhistorische Sicht basiert auf einer philosophischen Anthropologie der “Vitalsituation”. Sie wird von ihm durch eine vierfache “Verwurzelung” (Montaigne: à la taille de l´homme) gekennzeichnet: die Bindung an andere (“Gemeinschaft”); die Bindung zur Natur; die Beziehung zu Dingen (“Eigentum”) und Beziehungen zur Geschichte (“Überlieferung”). Werden kritische Niveaus dieser vitalen Grenzen durchbrochen, entstehen soziale Folgekosten und Neigungen zu totalitären Ideologien, z.B. in Form von Faschismus und Stalinismus oder ihrer heutigen Nachfolger, aber auch in Form eines enthemmten Konsumerismus. Neben seine anthropologische Auffassung tritt gleichwertig sein spezifisch humanistischer, personalistischer, dezentraler und realistischer Liberalismus in antik-christlicher Tradition, dessen Gelingen für ihn von sich gegenseitig kontrollierende, begrenzende und anregende Ebenen und Kräfte abhängt, d.h. eine ganz eigensinnige Gewaltenteilung unter Einschluss der Justiz, der Kirchen und einer von Interessengruppen unabhängigen Presse und Wissenschaft. Letztere kritisierte er hart und warf ihr – mit einem von ihm häufig zitierten Buchtitel Julien Bendas ausgedrückt – „Verrat“ und mangelnde unabhängige Urteilskraft und -bereitschaft vor, ein Vorwurf, der verstärkt wieder nach der Finanzkrise 2007 vorgebracht wurde und mit „innocent fraud“ nach J.K. Galbraith (treuherzige Lüge) und „Inside Jobs“ zusammenhängen mag.

Röpke sprach klar und mutig die Probleme seiner Zeit an, er war kein schöngeistiger Gelehrter, sondern Realist, auch durch sein Eintreten für die Marktwirtschaft als einem effizienten System der ethischen Mittellage. Er wunderte sich nicht über Schwarzmärkte bei administrativen Preiskontrollen. Röpke befürwortete eine zu gestaltende Konkurrenzwirtschaft als Leistungsansporn. Freie Märkte, Außenhandelsliberalisierung, die Begrenzung der Staatsquote und die Beendigung staatlicher Preisregulierungen und Devisenbewirtschaftung fanden seine unbeschränkte Zustimmung, aber mit erheblichen Ergänzungen.

Denn Röpke forderte – wie erwähnt – immer einen „dritten Weg“: Dezentralismus, Masseneigentum, ein Kapitalismus des Kleingewerbes mit kleinbäuerlichem Einschlag, Wohnungseigentum mit Garten und ein ausreichendes Refugium marktfreier Bereiche, da der Markt ein “Moralzehrer” sei, die nötige (Markt)Moral sich daher außerhalb des Marktes über marktferne kulturelle Quellen regenerieren müsse. Er stand mit dieser Auffassung im Widerspruch zu Hayek und angelsächsischen Ansätzen der spontanen Generierung einer Marktmoral mit Fairnessregeln und Reputationsstandards und dank eines aufgeklärten Selbstinteresses dem Wirken des Adam Smithschen unparteiischen Selbstbeobachters (der impartial spectator).

Röpkes Ideal bestand in einem Schweizer Dorf mit ungefähr 3000 Menschen. Er forderte eine Vereinfachung des Lebensstils und eine Rückbesinnung auf das einfach-natürliche, was ihm nicht nur von Befürwortern des real existierenden Sozialismus den Ruf eines romantischen Befürworters eines Gartenzwergkapitalismus eintrug. Sein wertkonservatives Leitbild und sein unbeugsamer Liberalismus mussten zu Spannungen führen, die aber objektive Zielkonflikte einer Marktwirtschaft andeuten, zwischen einer marktwirtschaftlich-freiheitlichen Wirtschaftsverfassung und einer von ihm geforderten gegensinnigen Raumordnungspolitik; zwischen der Mobilität der Produktionsfaktoren und der vitalpolitischen Verwurzelung und Sesshaftigkeit; zwischen der Vertiefung des (globalen) Warentauschs und dem Bestehen kleinerer Gemeinschaften; zwischen dem Freihandelsprinzip und dessen von Röpke im Grunde befürwortete Verletzung im Landwirtschaftsbereich, kurz: zwischen Hyperglobalisierung und Small is beautiful.

Konjunkturtheorie

Neben Arbeiten zur allgemeinen Wirtschaftstheorie griff Röpke in staatsbürgerlicher Grundeinstellung sprachgewandt und mit klaren, theoretisch aufgeklärten Meinungen als Freihandel und Demokratie verteidigender Intellektueller in die entscheidenden Debatten der bewegten Weimarer Republik ein. Die Themen bezogen sich vor allem auf die Sozialisierungsfrage, die Sozialpolitik, die Reparationszahlungen, die Ruhrbesetzung, die Rentenmark, den restaurierten Goldstandard, die internationale Transferdebatte und die Auslandskredite, aber natürlich auch auf sozialphilosophische Fragestellungen der Zeit.

Nur seine konjunkturtheoretischen und -politischen Auffassungen und Aktivitäten können hier kurz Erwähnung finden, die in die Anfänge der konjunkturtheoretischen und neuen geldtheoretischen Ansätze auch im deutschsprachigen Bereich fielen (Hayek, Mises, Spiethoff, Schumpeter, Hahn). Seine noch tastende Habilitationsschrift ist eher als Problemwahrnehmung zu bezeichnen, sie machte ihn aber zu einem Mitbegründer der wissenschaftlichen Konjunkturtheorie, die sich bei ihm dann in “Krise und Konjunktur” (1932) findet. Röpke begründete keinen neuen umwälzenden Ansatz, sondern er integrierte verschiedene Elemente, man kann ihn aber als monetären Überinvestitionstheoretiker einordnen, der Konjunkturen primär auf durch Geldmengenänderungen bewirkte Preisniveauveränderungen zurückführte, bei ihm aber auch der Akzelerator, die Disproportionalitäten der Produktionsstruktur und die Disparität zwischen Produktionszusammensetzung und geplanter Einkommensverwendung eine wesentliche, wenn auch nicht immer ganz kohärente, Rolle spielen.

Stärken seiner Konjunkturschriften liegen in seiner phänomenologischen Erfassung und deskriptiven Beschreibung von Konjunkturverläufen, seiner Hervorhebung der massenpsychologischen und der historischen Komponente als positive theoretische Nachwirkung der Historischen Schule. Der heute von den Pluralen Ökonomen und heterodoxen Studenten geforderte Einbezug historisch-institutioneller Aspekte war für ihn selbstverständlich. Ebenso Herdenverhalten und irrationaler Überschwang, der heute v.a. von der Verhaltensökonomie neu entdeckt und mit Nobelpreisen gewürdigt wird.

Sein theoretisch-historischer, hermeneutisch-institutioneller Ansatz ist sicher wesentlich verantwortlich für sein Erkennen des Sondercharakters der Weltwirtschaftskrise, der für ihn seit April 1931 feststand und zur Forderung einer “Initialzündung” führte. Gegen den Brüningschen „Durchhaltenihilismus“ glaubte er – auch im Unterschied zu anderen Ordoliberalen wie Eucken – nicht mehr an die Selbstheilungskräfte des Marktes. Ab 1932 bezeichnete er die Wirtschaftslage als „sekundäre Depression“, gekennzeichnet durch gleichzeitige, sich verstärkende Produktions-, Preis-, Nachfrage- und Einkommenskontraktionen. Neben die Markt- müsse daher eine quasi-keynesianische kreislauftheoretische Betrachtung jenseits des Gleichgewichtskorridors treten.

Vor allem in der 1930 von der Reichsregierung eingesetzten „Kommission zum Studium der Arbeitslosenfrage“ (Brauns-Kommission) forderte er eine kreditfinanzierte Investitionsankurbelung durch staatliche Großaufträge, die allerdings durch langfristige Auslandskredite und nicht über inländische Schuldenfinanzierung finanziert werden sollte – eine dennoch für einen Liberalen, der sich in Phasen der Normalkonjunktur für Zollsenkungen, den Goldstandard und eine Politik ausgeglichener Budgets einsetzte, außergewöhnliche Position – auch angesichts seiner sonstigen harten Kritik des Keynesianischen Theorieansatzes mit Deficit spending, den er – einigermaßen übertrieben – als verkappten Marsch in den Totalitarismus ansah.

Grundsätzlich vertrat Röpke eine konservative Konjunkturpolitik, da er meinte, je steiler der Boom ausfalle, umso tiefer führe zwangsläufig die reinigende Rezession. Er trat grundsätzlich für eine neutrale, sich der Diskont- und Offenmarktpolitik bedienenden, auf die Verstetigung der Investitionstätigkeit abzielende Geldpolitik ein. Ferner akzeptierte er eine moderate kompensatorische Budgetpolitik, bei der im Boom Überschüsse angesammelt werden, die in der Rezession zur Wiederankurbelung eingesetzt werden können. Er schätzte eine solche Politik aber nach 1945 angesichts der Grenzen des von ihm befürworteten Goldstandards und der Gefahren durch expansionsfreudige Politiker allerdings zunehmend skeptisch ein.

1935, als man sich in den meisten Zentralen der Westmächte noch an die Illusionen der Appeasement-Politik klammerte, analysierte der Emigrant Röpke aus der fernen Türkei mit seltener Klarsicht Wesen und Zukunftsabsichten des autoritären deutschen Staates und beschrieb zugleich dessen erst später offensichtlich werdende ökonomische Achillesferse der “zurückgestauten Inflation” – ein noch heute gängiger Begriff – mit Über-Vollbeschäftigung, Preiskontrollen und ihren Nebenwirkungen.

Die deutsche Nachkriegsentwicklung (1945-1966) [“Die deutsche Frage” 1945]

Die im Juni 1948 durchgeführte Währungsreform und die im Juli von Erhard durchgesetzte Politik des Endes der Preisstopps für die meisten Güter setzten eine damalige Minderheitenposition durch. Der auch von Röpke erwartete Effekt, dass freie Preise zwar zu einem vorläufigen Anstieg des Preisniveaus, aber auch zu einem dauerhaft deutlich höheren Warenangebot führen würde, trat ein.

1950 erhielt Röpke angesichts von 2 Mio. Arbeitslosen den Auftrag von der Bundesregierung, ein Memorandum zur Frage “Ist die deutsche Wirtschaftspolitik richtig?” zu erstellen. In 91 Thesen, die ordnungstheoretische und unmittelbar zeitbedingte Fragestellungen verbanden, empfahl er, den export- und produktionsorientierten Wachstumspfad mit Weltmarktintegration bei vorrangiger Liberalisierungspolitik fortzusetzen. Er forderte die Aufgabe der „Wohnungszwangwirtschaft“, kritisierte die Mitbestimmung, sprach sich gegen ein Vollbeschäftigungsprogramm aus und forderte die Rückdrängung des Wohlfahrtsstaates auf ein Minimum zugunsten der Selbstvorsorge und er mahnte Auswüchse des ´Fiskalsozialismus´ an (er hielt eine Staatsquote von maximal 25% für angemessen). Er forderte eine weitergehende Zollliberalisierung und trat für vollständige Währungskonvertibilität ein, die praktisch erst im Jahre 1958 erfolgte. Weniger deutlich traten im Gutachten seine alten Forderungen der Dekonzentration, der Herstellung weitest gehenden Wettbewerbs und einer Antimonopolpolitik hervor, was als pragmatischer, vielleicht zu konzilianter Tribut an die Herausforderungen der Flüchtlingsströme, den einsetzenden kalten Krieg (Röpke war bekennender Antikommunist) und die neuen Vorstellungen der Westalliierten gelten kann.

Seit dem Koreakrieg im Jahr 1950 trat das Problem der Hochkonjunktur in den Vordergrund, die im Jahr 1956 zur Vollbeschäftigungsgrenze führte. Röpke kritisierte zunehmend den Wohlfahrtsstaat kulturphilosophisch in düsteren Bildern als Nationalisierung des Menschen. Die Hochkonjunktur sei Ausdruck einer unglücklichen Kombination einer verfehlten Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, die sich kurzfristig in dauernden Zahlungsbilanzkrisen und Erschütterungen des 1971 tatsächlich zusammengebrochenen Bretton-Woods-Währungssystems und einer „demokratisch-sozialen chronischen Inflation“ niederschlage. Vollbeschäftigung, Lohnsteigerungen und Geldwertstabilität seien nicht länger vereinbar. Er forderte das strikte Primat der Geldwertstabilität. Tatsächlich sah er aber die Fiskalinflation (Budgetdefizite, Sozialpolitik), die auch durch die Gewerkschaften verursachte Lohninflation, die auch durch künstlich niedrige Zinsen bewirkte Investitionsinflation und die importierte Inflation (Monetisierung bei Zahlungsbilanzüberschüssen) unaufhaltsam auf dem Vormarsch im “Zeitalter der Inflation“.

Schließlich machte sich Röpke auch skeptische Gedanken zum Preis der Prosperität in vitalpolitischer Hinsicht. Er kritisierte die Konzentration auf den materiellen Gewinn und Genuss, den Kultus des Lebensstandards, den Mangel an politischem Interesse, den rücksichtslosen Wachstumsmaterialismus, den ungezügelten Automobilismus, usw. Sein Fazit lautete, dass wir vom Regen des totalitären Staates zunehmend in die Traufe des totalen Egoismus und Konsumerismus gerieten.

Die europäische Herausforderung

1957 wurde der EWG-Vertrag u.a. mit dem Fernziel eines gemeinsamen Marktes beschlossen. Röpke vertrat gegenüber der EWG mit Haberler und L. Erhard eine absolute Minderheitenposition, da er gegen die EWG als regionalen Zusammenschluss war und sich für eine liberale, rein funktionale und globale Lösung aussprach. Er verfasste etwa 150 Aufsätze für sein Ideal des multilateralen Freihandels. Er forderte universale Zollsenkungen, die Abschaffung von Handelshemmnissen, Währungskonvertibilität und die unbedingte Meistbegünstigungsklausel. Als ein schlechterer Weg erschienen ihm regionale Lösungen in Form von Freihandelszonen (EFTA), d.h. die Abschaffung aller Zölle und Handelsbeschränkungen untereinander, aber eine national autonome Bestimmung der jeweiligen länderspezifischen Außenzölle. Der Weg der EWG zur Zollunion, d.h. eine zusätzlich gegenüber Drittländern gemeinsame Zollgestaltung, lehnte er ebenso ab wie die Realisierung eines gemeinsamen Marktes (einschließlich Mobilität der Produktionsfaktoren) und einer Wirtschaftsunion (zusätzliche Harmonisierung der Wirtschaftspolitiken).

Röpkes Ablehnung beruhte wesentlich auf dem Hinweis der kulturgeschichtlichen Eigenheiten Europas, seiner Einheit in der Vielfalt. Ein gesamteuropäisches Bewusstsein gebe es nicht, was nicht nur angesichts des unsolidarischen innereuropäischen Verhaltens in der Flüchtlingsfrage selbst ein halbes Jahrhundert später leider bestätigt wird. Eine Freihandelszone böte seiner Meinung nach die beste Mischung aus Nähe und Distanz. Auch verwies er auf die möglichen handelsverdrängenden Effekte durch eine Zollunion, die nach außen als Festung auftreten könne und er vom Januskopf der Zollunion zwischen Freihandel und Protektionismus sprach, der sich heute besonders deutlich in der Abschottung des Landwirtschaftsbereichs gegenüber Entwicklungsländern zeigt. Ferner vermisste Röpke die ordnungspolitische Eindeutigkeit und die Formulierung klarer Spielregeln in der EWG. In den gemeinsamen Politiken (Kohle, Stahl, Landwirtschaft, Atomkraft) sah er planwirtschaftliche Experimente, denen er wie der Planwirtschaft ein völliges Scheitern vorhersagte. Ferner sah Röpke das Ausufern zu einer weiteren Großorganisation mit Trend zu einer europäischen Superbürokratie mit unsinnigen Verordnungen und das Entstehen einer neuen Klasse von „Ökonomokraten“ voraus, “jenes Menschentypus unserer Zeit, der von einer Konferenz zur anderen und von einem Flugzeug zum anderen mit seiner gewichtigen Aktentasche eilt” (1957). Wichtiger als die hektische Einrichtung – auf die heutige Situation übertragen – von Rettungsschirmen, monetärer Niedrigzinsmanipulationen der EZB, OMT und QE sei nationale monetäre Disziplin, eine antiinflationäre Wirtschaftspolitik, stabile Wechselkurse durch einen klassischen Goldstandard, ein Vorrang von rules versus authorities und eine ausgeglichene Zahlungsbilanz (konstante Gold- und Devisenbestände). Dies bedeutet aus heutiger Sicht keine Politik der Lohnzurückhaltung zwecks Exportsteigerung, sondern eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik, gegen die Deutschland nach Einführung des Euro ebenso verstieß, wie einige (Süd)Länder in umgekehrter Richtung.

Für höhere Integrationsstufen, insbesondere eine Wirtschaftsunion, gelte ein Primat der geistig-politischen Integration, sie funktioniere nur bei vorheriger politischer Einheit. Die Hoffnung, erst einmal eine gemeinsame Währung einzuführen und entweder eine neoliberale Rosskur oder ein gesamteuropäisierter Sozialstaat folge zwangsläufig, hat sich beides nicht erfüllt. Röpke sah das Scheitern des Fixkurssystems von Bretton-Woods, aber auch die Instabilität flexibler Wechselkurse und das längerfristige Versagen einer Politik des billigen Geldes voraus, wie sie zurzeit die EZB praktiziert. Er war ein ausgesprochener Gegner einer europäischen Zentralbank. Ein solches Währungssystem beinhalte eine gemeinsame Währungs- und Kreditpolitik, was eine Vereinheitlichung der Wirtschaftspolitik nach sich ziehe(n müsse). Eine entsprechende Politik sei aber nur im Rahmen eines gesamteuropäischen Staates praktikabel, der weder wünschenswert noch wahrscheinlich sei.

Röpkes Gegenwartsbedeutung

Es ist überraschend, wie weit die von Röpke angewandte ökonomische Hermeneutik trug, die nicht auf komplizierte formale Modelle zurückgreift: Hinsichtlich der Diagnose einer sekundären Depression in der Weltwirtschaftskrise, der Gefahren des NS-Regimes, der europäischen Integration, des von ihm so bezeichneten, hier nicht näher thematisierten „ökologischen Vernichtungsfeldzuges“ und der vialpolitischen Unterernährung des Gegenwartsmenschen war er ein hermeneutischer Früherkenner. Die heutige einseitige, formale Ausbildung an ökonomischen Fakultäten, die nicht interdisziplinär, historisch und auch auf Persönlichkeitsentwicklung achtet, wäre seiner Kritik gewiss. Er befände sich diesbezüglich in Übereinstimmung mit den plural-heterodoxen Studenten und den Initiativen von Hochschulgründungen (Cusanus) oder der bevorstehenden Eröffnung eines pluralen ökonomischen Masterstudiengangs an der Universität Siegen.

Röpkes kritischer, soziologischer Humanismus, der nicht immer nur die vom ökonomischen Mainstream betonte allokative Überwindung der Knappheit, sondern stets auch die „systemrelevanten“ Faktoren „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ (1958) im Auge hatte, greift Fragen der Umweltbewegung, der Glücksforschung, der Postwachstumsökonomie, der Entschleunigungsdebatte und die Gefahren der Bevölkerungsbombe (Ehrlich) auf. Die Weltbevölkerung stieg von unter 3 Mrd. in den 1950er Jahren weiter auf nunmehr über 7 Mrd. Menschen. Wie erwähnt, hielt er immer und nicht erst im Alter – wie von einigen Sekundärliteraten behauptet – den Schutz und Aufbau marktfreier, dezentraler, vitaler, zwischenmenschlicher, “kommunitarischer” Räume, die Stärkung des Kleinbauerntums, eine aktive Politik für kleinere ökonomische Einheiten und den Rückbau der infrastrukturellen Megamaschine, eine wenn nötig entflechtende Antikonzentrationspolitik und die Begrenzung des Kommerz- und Besitzmaterialismus für entscheidend. Röpke stellte diesen Entwicklungen sein Ideal des kleinen, vitalen Schweizer Dorfes entgegen. Bedürfte es in diesem Sinne zum Schutz einer „alteuropäischen“ Lebensweise heute Grenzausgleichszahlungen (Zölle) zur Vermeidung sozialen und ökologischen Dumpings zur Überwindung einer für Mensch und Natur ungesunden „Hyperglobalisierung“ (D. Rodrik)?

Gegen postmodernen Relativismus und auf Drittmittel schielenden Opportunismus hätte Röpke sicher auch vor, in und nach der Finanzkrise prinzipiengeleitetes Handeln mit innerem Kompass gefordert. Den Aufbau von Verschuldungskaskaden, sei es bei den Subprimes in den USA oder in Europa, hätte er sicher frühzeitig angeprangert. Er kritisierte bereits in den 1950er Jahren den sog. „Borgkauf“, d.h. den durch die Werbung angestachelten privaten Konsum auf Pump. Konsequent hätte er heute sicher die Zerschlagung der Megabanken gefordert, die sich sonst einer impliziter Staatsgarantie zulasten des Steuerzahlers erfreuen. An Stelle von Rettungsschirmen hätte er auf einer bis heute ausstehenden Staateninsolvenzverordnung bestanden und auch den Banken das Haftungsprinzip mit ev. Insolvenz nicht erspart und dank Basel III ihre mögliche 97prozentige Fremdfinanzierung hart kritisiert.

Dem Fehlen eines Knappheitsankers im Papiergeldstandard und dem zwangsläufigen Entstehen von Kreditbooms, oft mit Krisenfolge, durch das Geldschöpfungsprivileg der Privatbanken, die Geld aus dem Nichts schöpfen, setzte er damals den Goldstandard entgegen, bei dem die Ausdehnung der Geldmenge von der realen Goldproduktion abhing und begrenzen sollte. Hätte Röpke heute einer liberalen Variante des Vollgeldes (z.B. mit Thomas Mayer als Bürgerdividende), wie in der Schweiz und Island angedacht, unterstützt? Wäre es bei Beherzigung seiner Überlegungen zur gegenwärtigen katastrophalen Situation der EU gekommen? Was hätte er heute situativ vorgeschlagen?

In der FT vom gestrigen Mittwoch findet sich ein interessanter Kommentar ihres Chef-Kommentators Martin Wolf, „Bring the elites closer to the people“, der sich übrigens auch für Vollgeld einsetzt. Er diagnostiziert angesichts der amerikanischen Wahlergebnisse von Iowa, aber auch z.B. der Verschiebungen der europäischen Parteienlandschaft folgende Herausforderungen: die Bewahrung kultureller Identitäten (auch angesichts der Flüchtlingsströme), die wachsende – die Mittelschichten zerbröselnde – Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung, die falsche EU-Austeritätspolitik ohne Schuldenabschreibungen und mit Insolvenzverschleppungen, einen zu großen Finanzsektor in Relation zum BIP, ein zunehmend ungerechtes Steuersystem (wer hat, dem wird belassen), eine zu starke Berücksichtigung der Shareholderinteressen trotz Haftungsbeschränkungen und eine zu starke Bedeutung des Geldes in der Politik. Röpke hätte sicher eine ähnliche, heute unter Mainstreamökonomen allerdings in dieser Kombination nicht sehr verbreitete Schwachstellenanalyse vorgenommen.

Diese aktuellen Problemfelder sollten hier nur angedeutet und nicht vertieft werden, da wir gespannt auf die Ausstellungseröffnung zu Wilhelm Röpke, einem großartigen deutschen Nationalökonomen warten, dessen Überlegungen selbst nach einem halben Jahrhundert meines Erachtens von unschätzbarem Wert sind.

2 Kommentare

  1. „Die größte Tragödie in der Geschichte der Menschheit ist wohl die, dass die Moral von der Religion mit Beschlag belegt wurde.“

    Arthur C. Clarke

    Der Moralverkäufer überträgt das Prinzip der Solidarität, das nur in der Familie oder in einer dörflichen Urgemeinschaft von bis zu 150 Mitmenschen funktioniert, auf eine Volkswirtschaft mit vielen Millionen Menschen, in der dieses Prinzip begreiflicherweise nicht funktioniert. Solange aber genügend Dumme glauben, eine „Moral“ könne wichtiger sein als die Regeln der makroökonomischen Grundordnung, lässt sich das arbeitende Volk umso leichter ausbeuten! Die Tragödie ist umso tragischer, als dass sie schon seit Jesus von Nazareth, der kein Prediger, sondern ein Weiser war, zu beenden gewesen wäre:

    http://opium-des-volkes.blogspot.de/2013/10/glaube-aberglaube-unglaube.html

    Wahre Nächstenliebe (Eigennutz = Gemeinnutz) beseitigt die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und damit auch Massenarmut und Krieg, führt zur klassenlosen Gesellschaft und zum eigentlichen Beginn der menschlichen Zivilisation. Wer aber noch an den „lieben Gott“ glaubt, will stattdessen eine Moral verkaufen. Was ist das eigentlich?

    http://de.wikipedia.org/wiki/Moral

    Nichts weiter als irgendeine traditionelle Verhaltensweise. Wie soll sich der Mensch aber nun verhalten, damit ein harmonisches Zusammenleben sowohl untereinander als auch mit der Natur möglich wird? Darüber wird seit Jahrtausenden gestritten, und jeder Moralverkäufer glaubt eine „bessere“ Moral zu verkaufen als andere Moralverkäufer. Der „Erfolg“ sind heute in „Friedenszeiten“ 30.000 verhungerte Kinder pro Tag, mit weiterhin steigender Tendenz, von den Umweltschäden ganz zu schweigen. Die einfache Wahrheit: Es gibt keine wie auch immer geartete Moral, die ein harmonisches Zusammenleben sowohl untereinander als auch mit der Natur von mehr als 150 Menschen ermöglicht, denn nur bis zu dieser Grenze können sich alle noch gegenseitig kennen. Bleibt aber die Arbeitsteilung auf 150 Menschen beschränkt, gibt es keine Weiterentwicklung. Darum verharrte der Homo sapiens über einen Zeitraum von etwa 150.000 Jahren auf dieser Stufe des Urkommunismus, der alles andere als ein „paradiesischer Zustand“ ist, sondern nur das nackte Überleben.

    Für eine kulturelle Weiterentwicklung muss die Arbeitsteilung auf deutlich mehr als 150 Menschen ausgeweitet werden. Dazu ist die Solidarität ungeeignet, denn niemand ist mit anderen solidarisch, die er nicht kennt. Die einzige Motivation und – weil in den Anfängen der Kulturentwicklung das Wissen noch fehlte – auch die einzige Möglichkeit für eine koordinierte Arbeitsteilung zwischen vielen tausend bis zu einigen Millionen war zunächst die Machtausübung des Menschen über andere Menschen oder Menschengruppen. Dazu erfand der Kulturmensch die Götter: durch Schöpfungsmythen im kollektiv Unbewussten einprogrammierte, künstliche Archetypen, um aus Menschen willige „Arbeitsameisen“ (Untertanen) zu machen. Eine solche frühe Kultur, eine zentralistische Planwirtschaft noch ohne liquides Geld (Ursozialismus bzw. Staatskapitalismus), war z. B. das vorantike Ägypten der Pharaonen, in der der einfache Arbeiter noch kein selbständig denkender Mensch war, sondern ein beliebig austauschbarer Leibeigener des Pharao. Der einfache Arbeiter dachte sich aber nichts dabei, verrichtete die ihm zugewiesene Arbeit und ließ sich mit einem Häufchen Getreide pro Tag füttern, denn er hatte keine Vergleichsmöglichkeit. Aufgrund der Programmierung seines Unterbewusstseins war er nicht in der Lage, sich ein anderes und besseres Leben, das er hätte begehren können, überhaupt vorzustellen.

    Das Bewusstsein des Menschen arbeitet mit Worten und Zahlen, das Unterbewusstsein mit Bildern und Metaphern. Das Unterbewusstsein lässt sich programmieren und damit der Kulturmensch durch selektive geistige Blindheit an eine noch fehlerhafte Makroökonomie anpassen, indem elementare makroökonomische Zusammenhänge mit archetypischen Bildern und Metaphern exakt umschrieben und diese dann mit falschen Assoziationen und Begriffen verknüpft werden, an die der Untertan glaubt. Der Glaube an die falschen Begriffe erzeugt eine geistige Verwirrung, die es dem Programmierten so gut wie unmöglich macht, die makroökonomische Grundordnung, in der er arbeitet, zu verstehen; noch weniger kann er über die Makroökonomie, die in den Grundzügen seine Existenz bestimmt, hinausdenken. Diese Technik, die in früheren Zeiten – etwa bis zum 6. vorchristlichen Jahrhundert – noch eine exakte Wissenschaft war und die nur von eingeweihten Oberpriestern betrieben werden durfte, nennt sich „geistige Beschneidung von Untertanen“, bzw. Religion = Rückbindung auf künstliche Archetypen im kollektiv Unbewussten. Auch das, was heute „moderne Zivilisation“ genannt wird, entstand aus der Religion:

    http://www.deweles.de/files/gen1-1_11-9.pdf

    „Im Anfang war das Wort“, was bedeutet: Wer den Text nur gehört oder gelesen, aber ihn nicht verstanden hat, befindet sich im „Programm Genesis“ und kommt nicht wieder heraus, bis er den Text verstanden hat. …aus http://opium-des-volkes.blogspot.de/2013/11/macht-oder-konkurrenz.html

  2. Helge Peukert hat mir mit diesem Artikel den alten, guten, aufrechten, vielleicht inzwischen ein bisschen verstaubten Röpke sehr viel näher gebracht. Schön, dass er ihn „auch aus der Gegenwart befragt: was er heute wohl zu den Problemen, der EZB-Politik, dem Vollgeld, der Migration, usw. sagen würde. Er traut ihm offenbar viel zu. Schön. Gut auch, dass er zugleich Martin Wolf, den Chefkommentator ins Spiel bringt, ein Fürsprecher einer funktionierenden Bürgergesellschaft, ein Mann mit Prinzipien und Weitblick, wie damals der gute Röpke.

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