Wider die deutsche Target-Hysterie

SONNTAG, 29. JULI 2018

F.A.S. – WIRTSCHAFT

standpunkt

Wider die deutsche Target-Hysterie

Was passiert, wenn Italien aus dem Euro ausscheidet und sich weigert, seine Verbindlichkeiten gegenüber der EZB einzulösen? Gar nichts, sagt Martin Hellwig

Die sogenannten „Target-Forderungen“ der Bundesbank gegenüber der EZB sind auf eine Billion Euro angestiegen. Frankfurter Allgemeine Zeitung und Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung widmen diesem Ereignis mehrere Artikel. Thomas Mayer (F.A.S. vom 10. Juli) schreibt, die EZB habe nicht das „nötige Geld, um ihre Verbindlichkeit an die Bundesbank begleichen zu können“. Hans-Werner Sinn (F.A.Z. vom 17. Juli) meint, Deutschland sei „zu einem Selbstbedienungsladen geworden, in dem man nach Belieben anschreiben lassen kann, ohne dass der Ladeninhaber seine Forderungen fällig stellen kann“.

Bei der Lektüre kam mir Wittgensteins Formulierung von der „Verhexung des Verstands mit den Mitteln der Sprache“ in den Sinn, hier mit dem Zusatz: „und der doppelten Buchführung“. Jeder Finanzanalyst weiß, dass man das Kleingedruckte lesen muss, ehe man die Zahlen in einer Bilanz verstehen kann. Dass die Target-Forderungen in der Bilanz der Bundesbank als „Forderungen“ aufgeführt werden, bedeutet zunächst nur, dass dieser Posten auf der Haben-Seite der Bilanz steht. Tatsächlich gibt es keinen Rechtsanspruch auf eine Einlösung dieser „Forderung“. Die einzige Rechtsfolge besteht darin, dass bei der Verteilung der Gewinne im Eurosystem die Target-Forderungen und Verbindlichkeiten zu verzinsen sind. Allerdings liegt der Zinssatz derzeit bei null.

Entgegen dem, was behauptet wird, beruhen die Target-Forderungen nicht auf Krediten der Bundesbank. Es sind vielmehr Gegenbuchungen im Rahmen des Zahlungsverkehrs. Solche Gegenbuchungen tauchen auch auf, wenn Frau Müller in München 1000 Euro an Herrn Schmitz in Köln überweist. Durch die Überweisung sinkt die Verbindlichkeit der Münchner Bank gegenüber Frau Müller und steigt die Verbindlichkeit der Kölner Bank gegenüber Herrn Schmitz, beides um 1000 Euro. Die Gegenbuchungen erfolgen auf den Konten der beiden Banken bei einem Dritten, der die Verbindung herstellt. Gehören beide derselben Organisation an, etwa als Filialen einer überregional tätigen Bank, so sinkt das Guthaben der Münchner Filiale und steigt das Guthaben der Kölner Filiale bei der Zentrale der Organisation, beides um 1000 Euro. Das ist ein rein mechanischer Vorgang.

Für die Target-Salden gilt Ähnliches. Wenn eine italienische Bank einer deutschen Bank Geld überweist, steigt das Guthaben der deutschen Bank bei der Bundesbank und sinkt das Guthaben der italienischen Bank bei der Banca d’Italia, und gleichzeitig steigt das „Target-Guthaben“ der Bundesbank und sinkt das „Target-Guthaben“ (steigt die „Target-Verbindlichkeit“) der Banca d’Italia bei der EZB, auch dies ein rein mechanischer Vorgang.

Aber ist das die richtige Analogie? Die Bundesbank ist doch nicht einfach eine Filiale der EZB! Wenn die beteiligten Banken unabhängig voneinander sind, so enthält auch der Zahlungsverkehr ein Element der Kreditvergabe. Dann läuft der Vorgang über die Bundesbank, das Guthaben der Münchner Bank bei der Bundesbank sinkt um 1000 Euro, und das der Kölner Bank bei der Bundesbank steigt um 1000 Euro. Und wenn die Münchner Bank bei der Bundesbank im Minus ist, so würde ihre Verbindlichkeit um 1000 Euro steigen; dazu muss die Bundesbank ihren Kredit an die Münchner Bank erhöhen.

Die Bundesbank ist allerdings weder ganz selbständig noch ganz unselbständig. Als Miteigentümerin der EZB ist sie selbständig. Als operativer Teil des Eurosystems dagegen ist sie unselbständig. Die Regeln des Eurosystems lassen ihr in einigen Dingen relativ viel, in anderen relativ wenig eigenen Spielraum, bei der Durchführung des innereuropäischen Zahlungsverkehrs praktisch keinen. Insofern trifft der Vergleich mit den verschiedenen Filialen einer einzigen überregional arbeitenden Bank den Sachverhalt besser als der Vergleich mit verschiedenen selbständig arbeitenden Banken. Im Hintergrund steht die Vorgabe des europäischen Vertrags, „das reibungslose Funktionieren der Zahlungssysteme zu fördern“.

Mayers Warnung, die EZB habe nicht das „nötige Geld, um ihre Verbindlichkeit an die Bundesbank begleichen zu können“, ist absurd, nur zu verstehen als Folge des Umstands, dass die Filialtätigkeit der Bundesbank als Teil des Eurosystems in der Bilanz der Bundesbank und nicht in der Bilanz der EZB ausgewiesen wird. Wiese man diese Filialtätigkeit bilanziell bei der EZB aus, so erübrigte sich die Diskussion. Alle Forderungen und Verbindlichkeiten der nationalen Zentralbanken aus geldpolitischen Operationen ständen dann in der Bilanz der EZB. Dazu gehören nicht nur die Target-Forderungen der Bundesbank, sondern auch deren Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten und aus der Notenausgabe in Höhe von zusammen mehr als 1200 Milliarden Euro, deutlich mehr als die Target-Forderungen.

Eine Übernahme dieser Verbindlichkeiten könnte die EZB sich ohne weiteres leisten, denn die Verbindlichkeiten aus der Notenausgabe verpflichten sie zu nichts, und die Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten verpflichten sie nur zur Einlösung in Noten, die sie selbst herstellen kann, ohne Kosten und ohne weitere Verpflichtung.

Und was ist, wenn Italien aus dem Euro ausscheidet und die Banca d’Italia sich weigert, ihre „Target-Verbindlichkeiten“ gegenüber der EZB einzulösen? Da diese Verbindlichkeiten die Banca d’Italia zu nichts verpflichten, ist die Antwort einfach: „Nichts!“ Nur eine Zahlungseinstellung des italienischen Staats würde das Eurosystem treffen, vor allem aber die Banca d’Italia, die italienischen Banken und Privatleute, die den Großteil der Staatsschulden halten.

Aber hinter den Target-Forderungen stehen doch deutsche Leistungen? Hier gewährt doch „Deutschland anderen Euroländern gleichsam unbegrenzt und unverzinst Kredit“. Und die Bundesbank hat es „anderen Volkswirtschaften des Euroraums ermöglicht, einen Nettozustrom von deutschen Waren, Dienstleistungen und Vermögenstiteln zu bezahlen“ (Sinn). Sätze wie diese sind semantisch unsinnig, da Worte und Begriffe außerhalb des Kontexts gebraucht werden, für den sie gedacht sind. Länder und Volkswirtschaften sind keine handelnden Personen oder Institutionen. Die Vergabe und Aufnahme von Krediten und der Kauf und Verkauf von Waren, Dienstleistungen und Vermögenstiteln sind die Angelegenheit von Personen und Institutionen in den verschiedenen Ländern und Volkswirtschaften. Und diese haben mit den Target-Positionen im Eurosystem nichts zu tun.

Ein guter Teil der Maßnahmen, die den Anstieg der Target-Salden verursacht haben, ist auch Personen und Institutionen in Deutschland zugutegekommen, so 2008, als die deutschen Banken ihre Kredite an griechische Banken abzogen und die griechische Zentralbank einsprang. Und deutsche Investoren haben davon profitiert, dass sie Staatspapiere aller Art an die Zentralbanken verkaufen konnten. Der Anstieg der Target-Salden seit 2015 geht vor allem auf die von der Bundesbank durchgesetzte Regel zurück, dass die verschiedenen Zentralbanken jeweils die Papiere ihres eigenen Staates kaufen sollten.

Und die Kapitalflucht der Südeuropäer? Im europäischen Binnenmarkt steht es allen, Griechen und Italienern genauso wie Deutschen, frei, ihr Geld anzulegen, wo sie wollen. Vielleicht bringen einige ihr Geld ja auch nach Frankfurt, weil der Finanzplatz so attraktiv ist. Wenn das die Immobilienpreise erhöht, ist das für Deutsche, die Wohnungen kaufen wollen, schlecht, aber gut für Deutsche, die Wohnungen verkaufen wollen. Preiseffekte sind immer ambivalent, aber bisher sind wir immer davon ausgegangen, dass die Marktöffnungsstrategie der EU für uns von Vorteil war.

Ein Grundprinzip der europäischen Integration besteht darin, dass im europäischen Binnenmarkt die Tätigkeit von Personen und Institutionen unabhängig von ihrem Sitzland ist. Die in den zitierten Sätzen vorgenommene Kollektivierung ist damit nicht vereinbar.

Martin Hellwig ist emeritierter Direktor des Max-Planck- Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern..

 

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